Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik.

Wenn heute die Wissenschaften ein Gemeingut aller Kulturvölker sind, und wenn sie heute ihre Fortschritte nur dem Zusammenwirken aller Kulturvölker verdanken, so liegt doch die Zeit nicht allzufern hinter uns, wo dieselben noch einen nationalen Charakter trugen, und diese oder jene Wissenschaft eben nur gerade bei diesem oder jenem Volke vorzugsweise Pflege und Förderung fand. So zeigt z. B. die Geschichte, dafs die gröfste mathematische Geistesthat des XVI. Jahrhunderts, die Bewältigung der kubischen Gleichung, ausschliefsliches Eigentum des italienischen Volkes ist, während im gleichen Jahrhundert in Deutschland selbst die führenden Geister auf dem Gebiete der Algebra sich der Hauptsache nach mit dem Ruhme begnügen müssen, ihren Volksgenossen das übermittelt zu haben, was andere Kulturvölker zum Teile schon längst besafsen. Doch wie hätte man das auch anders erwarten können? Die an die Reformation sich anschliefsenden Zeit- und Streitfragen absorbierten das ganze wissenschaftliche Interesse in Deutschland. Bezeichnend hierfür ist es, dafs der bekannteste deutsche Algebraiker des XVI. Jahrhunderts, MICHAEL STIFEL, durch seine mystischen Zahlenspielereien zur rein wissenschaftlichen Beschäftigung mit Arithmetik und Algebra hingeleitet wurde und später wieder von dieser zu jenen zurückkehrte. Ja trotz seiner teilweise wirklich genialen Leistungen auf dein Gebiete der Algebra und Zahlentheorie und trotz des bedenklichen Schiffbruchs seiner Zahlenmystikl) mafs STIFEL der,Wortrechnung" einen ungleich höheren Wert bei als der rein wissenschaftlichen Algebra. Wenn nun auch stets eine Zeit grofser wissenschaftlicher Leistungen und Erfolge den Kulturgeschichtsforscher in erster Linie anziehen wird, so darf er sich doch auch nicht der Darstellung von Perioden entziehen, in denen keine Marksteine der Entwicklung einer Wissenschaft zu geschichtlicher Forschung anlocken. Ja die Darstellung einer solchen Zeit bietet ihre eigenen Reize dar; handelt es sich hierbei doch sehr oft darum, die unscheinbaren Samenkörner einer künftigen Entwicklung blofszulegen, zum mindesten aber gilt es die Gründe aufzudecken, welche jene Stagnation ver1) STIFEL "berechnete" aus den Zahlen des Buches Daniel den Weltuntergang auf den 19. Oktober 1533 früh 8 Uhr.

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Title
Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik.
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Publication
Leipzig,: B. G. Teubner,
1877-99.
Subject terms
Mathematics -- Periodicals.
Mathematics -- History.

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"Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik." In the digital collection University of Michigan Historical Math Collection. https://name.umdl.umich.edu/acd4263.0003.001. University of Michigan Library Digital Collections. Accessed April 30, 2025.
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