Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik.

Franz Adolph Taurinus. 421 innere und eine äufsere Wahrheit. Jene beschränkt sich darauf, dafs die Geometrie ein in sich selbst beschlossenes, durchaus consequentes System ohne logischen Widerspruch bildet, ohne Frage noch von ihrer Anwendbarkeit auf die Erscheinungen der Aufsenwelt. Diess ist der Standpunkt, von welchem der Mathematiker seine Wissenschaft zu betrachten pflegt: er nennt sie eine reine, von aller Erfahrung unabhängige, auch nicht nothwendig auf sie hinweisende Wissenschaft und diese Eigenthümlichkeit wird häufig als ein besonderer Vorzug hervorgehoben. Soll aber die Geometrie nicht blofs ein müfsiges Erzeugnifs der productiven Einbildungskraft, sondern auch von praktischer Bedeutung sein, so fragt es sich, ob der Geometrie auch äussere Wahrheit zukomme, eine Untersuchung, die nicht mehr rein mathematisch ist. Dieser Übergang von dem reinen Erkennen zur Objectivität, von der Construction der productiven Einbildungskraft zur Bestimmung äufserer Verhältnisse hat von jeher grofse Schwierigkeiten und Zweifel verursacht. Aber auch abgesehen von dieser eigenthümlichen Schwierigkeit ist die Geometrie noch nicht in der reinen Entwicklung dargestellt, deren sie fähig ist. Die Geometrie gründet sich überhaupt auf das Gesetz der Coincidenz, welches aber selbst kein Axiom genannt werden kann, und überhaupt hat die Geometrie gar keine Axiome nöthig, diese müssen gänzlich aus ihr verbannt werden. Dieser Grundsatz der Coincidenz besteht darin, dafs die Geometrie die einfachsten Elemente des Raumes, nemlich die Linien, als gleichartig voraussetzt, so, daCs in den Linien eines und desselben Systemes nichts zu unterscheiden ist, als ihre Gröfse. Die Coincidenz ist nicht zu verwechseln mit der Congruenz, welche nicht nur ein Zusammenfallen, sondern auch gleiche Gränzen oder Gleichheit fordert. Bogen eines und desselben Kreises sind also gleichartig, Kreisbogen und gerade Linien sind ungleichartig, Kreisbogen mit verschiedenen Halbmessern beschrieben, sind nur ähnlicher Art. Die Analysis, die eine reine Entwicklung der Geometrie möglich macht, leitet aus dieser Bedingung der Coincidenz, ohne welche gar keine allgemeinen Sätze erhalten werden könnten, ein dreifaches System der Geometrie her und erweist die Winkelsumme eines Dreiecks als nothwendige Folge von der dreifachen Art der Linien. Dagegen klebt der Elementar-Geometrie nach der Methode des Euklid die Unvollkommenheit an, dafs sie nur die geradlinige Geometrie betrachten will, es aber nicht vermeiden kann, da sie an der Anschauung haftet und nicht den rein analytischen Begriff der Linien festhält, alle drei Systeme zugleich bis zu dem Punkte zu betrachten, wo ihr wesentlicher Unterschied

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Title
Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik.
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Publication
Leipzig,: B. G. Teubner,
1877-99.
Subject terms
Mathematics -- Periodicals.
Mathematics -- History.

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