Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik.

Die Geschichte der exakten Wissenschaften und der Nutzen ihres Studiums. 377 aufstrebende Theorien gleichen jungen Pflänzchen, deren Bewurzelung oft noch so zart ist, dafs wohl der kundige Gärtner ihr Leben sichern, dafs aber ein nur einigermafsen rauher Wind sie vielleicht in ihrem Wachstum zum Stillstand bringen oder auch gänzlich vernichten kann. Für solche Pflänzchen bildet wohl der Scholasticismus, wenn er sich ihrer annimmt, ein Schutzhaus, das sie so lange bewahrt, bis sie durch vielfache Pflege und Unterstützung erstarkt, auch einem scharfen Klima zu trotzen vermögen. Aus diesem Grunde haben kluge Forscher zu allen Zeiten und vielfach mit Erfolg versucht, ihre Entdeckungen und originellen Theorien dem Scholasticismus als vollkommen angemessene Produkte der geltenden Schule unterzuschieben, auch wenn dieselben nur äufserlich etwas nach den Schulformen zugestutzt und sonst wesentlich gegnerischer Natur waren. Leider ist der Scholasticismus immer mehr beflissen, gesunden Nachwuchs zu ersticken und längst Verrottetes zu bewahren, als Neues und Fruchtbares in eigene Pflege zu nehmen, weil er seiner ganzen Natur nach der Ruhe und Beharrung besonders zugeneigt ist, und es immer eines günstigen kräftigen Gegengewichts bedarf, um die schädlichen Wirkungen dieser Beharrungskraft aufzuheben. Ein solches dem Scholasticismus entgegenwirkendes Prinzip ist die Geschichte, welche im Gegensatz zu dem Bilde des Stillstandes, das sich die Scholastik ausmalt, die Wissenschaften im steten Flusse, in nie zu vollendender Entwicklung zeigt. Dieser Gegensatz tritt auch überall deutlich hervor und wird auf den beiden Seiten fast instinktiv gefühlt. Wo der Scholasticismus herrscht, da ist die Geschichte verpönt oder darf doch nur in verkümmerter Form, als Entwicklungsgeschichte der Schulmeinungen, gelehrt werden. Umgekehrt, wo man die Geschichte der Wissenschaften allgemein und unbehindert studiert, da ist die Herrschaft einer veralteten Scholastik auf die Dauer nicht mehr zu halten. Man hat wohl öfter der Geschichte der Wissenschaften einen reaktionären Charakter zugeschrieben, in Wahrheit könnte man ihr ebenso gut revolutionäre Neigungen andichten, denn ihre Aufgabe ist die Schilderung des ewigen Übergangs vom Alten zum Neuen, des unendlichen Werdens. In diesem negativen, antischolastischen Momente liegt ein Hauptwert der Geschichte, doch entbehrt sie auch eines direkten positiven Einflusses auf die Zukunft der Wissenschaft nicht. Die Entwicklung einer Wissenschaft gleicht einer krummen Linie oder gekrümmten Flache, deren Gesetz oder mathematische Formel nicht bekannt ist, und die man darum auch nicht genau konstruieren kann. Je mehr man aber Punkte derselben, je genauer man eines ihrer Stücke kennen lernt, mit desto gröfserer Genauigkeit wird es auch möglich sein, ihre Fortsetzung nach

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Title
Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik.
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Publication
Leipzig,: B. G. Teubner,
1877-99.
Subject terms
Mathematics -- Periodicals.
Mathematics -- History.

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"Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik." In the digital collection University of Michigan Historical Math Collection. https://name.umdl.umich.edu/acd4263.0003.001. University of Michigan Library Digital Collections. Accessed May 1, 2025.
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