Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik.

362 Ferd. Rosenberger: in Stillstandsperioden der Entwicklung ernster die Rede sein, die aber in absehbarer Zeit kaum zu erwarten wären. Doch ist damit die Trennung zwischen den toten und lebendigen Wissenschaften entschieden zu streng gefafst, denn in Wirklichkeit giebt es keinen so absoluten Unterschied zwischen denselben, dafs man die einen als durchaus historisch und die andern als nur modern bezeichnen könnte. Wäre eine Wissenschaft wirklich ganz entwicklungsunfähig geworden, so würde sie dadurch den Zusammenhang mit der menschlichen Erfahrung verloren und aufgehört haben als Wissenschaft zu existieren. Umgekehrt aber giebt es auch keine noch so lebendige Wissenschaft, die nur in der Gegenwart existierte und die nicht zu jeder Zeit einen gewissen Abschlufs erstrebte, der eine Grenze zwischen der in Bildung begriffenen Gegenwart und der vollendeten Vergangenheit setzte. Jede Zeitepoche ist bemüht, sich auf Grund der gewonnenen Erfahrungen eine geschlossene Weltanschauung zu bilden; und je mehr man von den Erfolgen der Gegenwart überzeugt ist, desto mehr wird man glauben, nur von diesen aus das bis jetzt Errungene verstehen zu können. Viele für den Fortschritt begeisterte Forscher behaupten allerdings, dafs es während der Epochen schnellster Entwicklung nicht an der Zeit sei Geschichte zu schreiben, und nehmen daraus Veranlassung ihre geschichtlichen Studien ad calendas graecas zu vertagen. Doch hat ihnen das thatsächliche Geschehen nie wirklich Recht gegeben, und meist sind in den Perioden schnellsten Fortschreitens einer Wissenschaft auch geschichtliche Darstellungen ihres Werdens zahlreich versucht worden. Dementsprechend hat gerade die physikalische Disziplin, welche in der Neuzeit sich am schnellsten entwickelte, die Elektrik, nicht die wenigsten, sondern vielmehr die meisten Schilderungen ihrer Entwicklungsgeschichte aufzuweisen, und diese Darstellungen sind nicht in Perioden verhältnismäfsigen Stillstands, sondern vielmehr in Zeiten schnellsten Fortschreitens, wie nach der Erfindung der Elektrisiermaschine und der Verstärkungsflasche, nach der Entdeckung des Galvanismus und endlich in der Gegenwart erschienen. Dieselbe Schwierigkeit, welche man hier der Geschichtsschreibung entgegenhält, das ewig Veränderliche, die stete Weiterentwicklung ihres Gegenstandes, stellt sich übrigens auch den Darstellungen, der systematischen Wissenschaft selbst entgegen. In der That veralten in fruchtbaren wissenschaftlichen Epochen die Lehrbücher der systematischen Wissenschaften noch schneller als die geschichtlichen Darstellungen, und manche von diesen werden schon während des Zeitraums von ihrer Niederschrift bis zu ihrem Erscheinen im Buchhandel durch die Ereignisse überholt. Aber diese Thatsache hat doch niemals weder von der Ausarbeitung, noch von dem An

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Title
Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik.
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Page 362
Publication
Leipzig,: B. G. Teubner,
1877-99.
Subject terms
Mathematics -- Periodicals.
Mathematics -- History.

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"Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik." In the digital collection University of Michigan Historical Math Collection. https://name.umdl.umich.edu/acd4263.0003.001. University of Michigan Library Digital Collections. Accessed May 1, 2025.
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