Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik.

Eine Autobiographie von Gotthold Eisenstein. 157 findens neuer Wahrheiten aus den alten, sowie die ausserordentliche Klarheit und Evidenz der Sätze, und das Geistreiche der Ideen, welcher ganze Theorien zu Grunde liegen, hatte einen unwiderstehlichen Reiz für mich. Keine andere Wissenschaft schien eine so reiche Ernte und einen so unerschöpflichen Stoff zur Ausübung dieser Geistesthätigkeit darzubieten. Kant zeigt ganz deutlich in seiner Kritik, dass dieses Feld das einzige ist, auf dem der menschliche Geist sich ohne alle Schranke ergehen und ohne Aufhören a priori die glänzendsten Entdeckungen machen kann; in der That ohne Aufhören, da jede neue Konstruktion, von einem genialen Geiste geleitet, neue Resultate hervorbringen muss. Ich gewöhnte mich bald daran, von den einzelnen Sätzen ab schärfer in den Zusammenhang zu dringen und ganze Theorien als eine Einheit aufzufassen. So ging mir die Idee des mathematisch Schönen auf. Es giebt ein solches mathematisch Schöne,.ebenso wie ein aesthetisch Schönes, welches man aber nur dann erst begreift, wenn man voll Begeisterung ein ganzes System von Entwickelungen, welche sich an eine Hauptidee schliessen und durch ihre Gemeinschaft zu einem Endresultate führen, in ihrer Verkettung, Harmonie, und Genialität als ein organisches Ganze wie ein Gemälde im Geiste iberschaut. Es giebt auch einen mathematischen Takt oder Geschmack, der der Untersuchung gleich von vorn herein ansieht, ob sie zu einem Resultate führen werde oder nicht, und die Betrachtungen und Entwickelungen demgemäss leitet. Nachdem ich mir durch eigenes Studium (denn einen Privatlehrer hatte ich nie) die Elementarkenntnisse erworben hatte, ging ich zur höheren Mathematik über und studierte ausser andern Büchern über diese Gegenstande besonders die herrlichen Werke von Euler und Lagrange über die Differential- und Integralrechnung. Da ich es mir zum Gesetz machte, jede neue Theorie, sobald ich sie verstanden hatte, gleich schriftlich auszuarbeiten, so prägten sich mir die Dinge weit tiefer ein, und ich beherrschte sie vollkommen, wozu noch kam, dass ich jede Sache auf mannigfaltige Arten kennen zu lernen suchte. Oft spazierte ich im Garten oder Zimmer auf und ab und demonstrierte mir, gleichsam mich selbst unterrichtend, ganze Reihen von Sätzen vor, deren Beweise mir klar waren. Ich kann diese Methode als sehr praktisch empfehlen. Das Docieren war überhaupt meine Neigung und ich hätte dieselbe gern an meinen Mitschülern befriedigt, wenn diese nicht meiner Begeisterung mit einer wahren Eiseskalte entgegengetreten wären, und wenn ich nicht hätte mit Betrübnis bemerken müssen, wie wenig Interesse die jungen Leute an einer Wissenschaft nahmen, die ich meinerseits mit aller Liebe umfasste, deren ich nur fähig war.

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Title
Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik.
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Publication
Leipzig,: B. G. Teubner,
1877-99.
Subject terms
Mathematics -- Periodicals.
Mathematics -- History.

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