Über die Theorie des Kreisels. Mit 143 Figuren im Text.

~ 7. Die Erklärung der Chandlerschen Periode und die Elastizität der Erde. 687 einer einigermafsen nachgiebigen Schale alle jene Erscheinungen so verlaufen könnten, wie es der Wirklichkeit entspricht. Die astronomischen Thatsachen widerlegen also nur die Annahme: flüssiges Erdinnere in starrer Schale, eine Annahme, die ja auch aus physikalischen Gründen unhaltbar ist, da wir kein Material kennen, das als dünne Schale ausgebildet völlig unnachgiebig wäre, Andrerseits aber wird die Annahme: flüssiges Erdinnere in nachgiebiger Schale, durch die Erscheinungen der Ebbe und Flut widerlegt. Eine dünne Erdkruste von der elastischen Nachgiebigkeit der uns bekannten Materialien würde nämlich dem deformierenden Einflufs der Gezeitenkräfte fast ebenso willig folgen wie das Wasser der Meere. Dann aber gäbe es unter dem Einflufs jener Kräfte keine relative Bewegung des Wassers gegen das Land, sondern nur ein gemeinsames Auf- und Abwogen der Meere und Kontinente, das sich der unmittelbaren Wahrnehmung entziehen würde. Somit bleibt nur die Annahme einer im Durchschnitt effektiv-festen Erde übrig (fest im Sinne der vorausgeschickten Erklärung). Mit dieser Annahme ist das Vorhandensein peripherischer Hohlräume, die mit einer Art Flüssigkeitsmagma ausgefüllt sind, oder auch das Vorhandensein einer ringsum ausgebildeten flüssigen Schicht durchaus verträglich, falls dieselben nur im Verhältnis zu dem effektiv-festen Erdkerne und der festen Erdkruste wenig ausgedehnt sind, wodurch nicht nur den Bedürfnissen der geologischen Theorien, sondern namentlich auch den wichtigen Ergebnissen der Pendelbeobachtungen Rechnung getragen werden kann. (Vgl. auch hierzu die Wiechertsche Theorie des Erdinnern.) Dafs die Erde zugleich effektiv starr sei, soll damit nicht behauptet werden. Schon Lord Kelvin *) hat versucht, den Grad der elastischen Nachgiebigkeit des Erdkörpers auf Grund der thatsächlichen Höhe der Fluten abzuschätzen. Während, wie wir soeben sagten, bei einer in der.Hauptsache flüssigen, also völlig nachgiebigen Erde die Fluthöhe sich auf Null reduzieren müfste, wird bei jedem endlichen Grade von elastischer Nachgiebigkeit die Fluthöhe einen gewissen Bruchteil derjenigen Höhe betragen, die sich auf einer völlig starren Erde ausbilden müfste. wie ein Kreisel aus festem Stoff; (über den Verlauf der kürzeren Nutationen geben die Beobachtungen an unserem Modell keinen deutlichen Aufschlufs). Dagegen erweist sich ein Kreisel, dessen Schwungmasse aus einem mit Flüssigkeit gefillten verlängerten Ellipsoid besteht, unter denselben Verhältnissen als gänzlich labil. Da die Erde ein abgeplattetes Rotationsellipsoid ist, so versteht man, dais sie in ihren Präcessionsbewegungen von denen eines durchaus festen Körpers auch dann nicht wesentlich abweichen würde, wenn sie mit Flüssigkeit gefüllt wäre, vorausgesetzt, dafs die Erdkruste, so wie wir es ohne merklichen Fehler von unserem Modell voraussetzen dürfen, absolut starr wäre. *) Thomson und Tait, Natural Philosophy II, art. 843.

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Title
Über die Theorie des Kreisels. Mit 143 Figuren im Text.
Author
Klein, Felix, 1849-1925.
Canvas
Page 685
Publication
Leipzig,: B. G. Teubner,
1897-1910.
Subject terms
Tops
Precession
Nutation
Latitude variation
Gyroscopes

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"Über die Theorie des Kreisels. Mit 143 Figuren im Text." In the digital collection University of Michigan Historical Math Collection. https://name.umdl.umich.edu/abv7354.0003.001. University of Michigan Library Digital Collections. Accessed May 31, 2025.
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