Vorlesungen über geschichte der mathematik, von Moritz Cantor.

3. Kapitel.
Die Babylonier.
In ziemlicli gleichem Maasse, wie das Stromgebiet des Nils,
welehes der Durchforschung zu alien Zeiten so Vieles und Wunderbares enthUillt hat, wusste das Land, weiches zwischen Euphrat und
Tigris gelegen ist, die Aufmerksamkeit der Gelehrten auf sich zu.
ziehen. flier in Chalddia gaben die durch Jalirtausende aufgeh'~uften
Triimmerhiigel ejile ahulich werthvolle Ausbeute wie dort die in Stein
gehauenen Gri-her, die versehuitteten Palastkammern Babylons eine
Thnliche wie die unter giinstigeren Verh~iltnissen aufrecht gebliebeneni
Tempel Aegyptens. Aber einen. wesentlichen Untersehied hat die
Forsehung mit ziemlicher Bestimnitheit nachzuweisen vermocht. In
Aegypten ist es im Grossen und Gauzen eine einzige Entwickelung
eines einheitlichen Volkes, die von Ort zu Ort, von Tempel zu Te~mpel
sich verfolgen Ilisst. In Chaldaa begegnen wir den Ueberresten
melirerer, mindestens zweier Nationen, die sich feindlich bekampften,
urn schliesslich in emn Misehvolk flberzngehen, dessen Bildung uns
nur Wahrscheinalichkeitsschliisse daffir gestattet, weichem der Urstiimme wir diesen. oder jenen Bestandtheil des spiier gemeinsamen
Wissens grutschreiben sollen.
INeuere Yl6lkerkunde hat die Gegend der Hochebene Pamir '),
etwa unter dem 38. Grade n6rdlicher Breite und dem 90. Grade 5-st —
licher Lianige gelegen, als das in Wirklichkeit freilich nichts weniger
als, paradiesische Paradies der orientalisehen Sagen erkannt. Vier
Gewiisser fliessen. von ihr nach den vier Himmeisriclitungen ab, der
Indus, der ilelmund, der Oxus, der Yaxartes. Von dort zun'aichst,
mutlimasslich noch weiter von Nordosten, von den Abliangen des
erzreichen Altaigebirges, drangen Skythenvdlker turanischen Stamnmes,
ihrem Hauptbestandtheile nach Surne ri er 2), herab, eine bereits, ziemlich entwickelte mathematische Bildung mit sich bringend, wie wir
nachher sehen wollen. Sie setzten sich fest auf dem Hochiande von
1) Maspero-Pietschmann S. 128. 2) Diesen Nanmen erkannt zu haben
geh~5rt zu den zahireichen Yerdiensten -von J. Op p e r lUeber die Wanderung
der Sumerier vergl. Maspero-Pietschmann S. 131.