Vorlesungen über geschichte der mathematik, von Moritz Cantor.

146

6. Kapitel.

bildete die ruhende Gri~sse den Gegenstand der Geometrie, die
bewegte Gr~5sse den Gegenstand der Sph'airik.
Bei manchem Weclisel der sonstigen Systematik blieb die eigentliche Arithmetik vom VI. his zum I. voreliristlichen Jalirhundert,
von den Pythagor'aiern his zu Geminus fast mit gleichem Inhalte
ausgestattet, und dieser gleichartige Inhalt wahrte sich weiter, so
lange fiberhauipt in griechischer Sprache fiber Udiesen Theil der Mathematik geschrieben wurde. Einiges kam natflrlich im Laufe der zeitlichena Entwicklung hinu. In die griechisehe Arithinetik drang emn,
was wir jetzt Algebra oder Lehre von den Gleichungen nennen,
soviel davon bekannt war. Ilir geho5rte die Lehre von den nach bestimmten Gesetzen gebildeten Reihen. und deren Summirung, ihr die
Proportionenlelire an, wie sie nach und nach in weiterem und weiterem Umfang sich bildeten, aber niemals begriff die Arithmetik das
eigentliche Rechnen unter sich.
Wir werden uns wohl der Wahrheit niihern, wenn wir annehmen,
die Logistik, die Rechenkunst, sei erst allmiiig als Gegenstand seliriftlicher Unterweisung in Bflchern behandelt worden. Sie verdankte
vorher ihre unentbhelrliche Verbreitung vorwiegend dem miindlichen.
Unterriclit. Sie war allgemeines Bedjirfuiiss, niclit Wissenschaft, und
es mag lange gedauert haben, bevor es einem Rechenmeister einflel,
fiber den Inhalt seines Unterriclits sich schriftlich auszusprechen. Zu
dieser Annahme gelangen wir von der Erwagung aus, dass eine
Logistik bestand und uns quellenmiaissig gesichert ist, lange bevor
wir von Bfichern fiber dieselbe h~ren. Ilhr Name kommt scion in
einem platonischen Dialoge vor, wo die Logistik der Aritlimetik
gegenfibergesteilt ist '), urnd in einem anderen Dialoge des gleichen
Verfassers ist von den Logistikern') die Rede.
Wenn wir bei der Betraclitung der pythagoriiischen Mathematik
von den arithmetischen Dingen ausgehen, so folgen wir nur der
Aussage, welehe in dieses Gebiet die wesentlichsten Leistungen des
Pythagoras verlegt, und welehe, selbst wenn ihr kein Gew~hrsmann
von der Bedeutung des Aristoxenus Gewicht verliehe, in dem allgemeinen Bewusstsein, dass die der Arithmetik nilchststehende Zahlensymbolik so recht eigentlich altpythagoriiisch war, ihre Reclitfertigung
linden, k~innte. Wir haben emn Beispiel pythagor'aischer Zahlenmystik
an frfiherer Stelle (S. 95) verwerthet. Emn anderes niag hier Platz
finden, welches gleichfalls Plutarch uns aufbewahrt hat: Es haben
sich aber wohi die Aegypter die Natur des Weltalls zun'aichst unter
dem Bilde des scho~nsten Dreiecks gedacht; auch Platon in der Schrift

') Platon, Go rgias 461, B. '2) Platon, Euthydemus 290, B.